Konfrontation mit dem Kreislauf: Im Garten zur Natur (und zu sich selbst) finden
Michael Watson 0
“Nature, in its ministry to man, is not only the material, but is also the process and the result. All the parts incessantly work into each other’s hands for the profit of man. The wind sows the seed; the sun evaporates the sea; the wind blows the vapor to the field; the ice, on the other side of the planet, condenses rain on this; the rain feeds the plant; the plant feeds the animal; and thus the endless circulations of the divine charity nourish man.”
Aus “Nature” von Ralph Waldo Emerson, 1836
Im Winter würden Fotos vom ökologischen Lehrgarten des IBs auf Instagram wahrscheinlich nicht sehr viele Likes bekommen. Das sonst so üppige Naturparadies wirkt im Februar desolat, dreckig und tot. Kein Summen und Brummen, kein Wachsen und Gedeihen, keine Blüten, wenig Blätter. #InstaGood oder #NaturePhotography, wären bei den kahlen Sträuchern, den vor-sich-hin-gammelnden Laubhaufen und dem matschigen Untergrund eher fehl am Platz. Passender wäre eher #DeathAndDecay, wobei man mit einem solchen Hashtag wahrscheinlich nicht viral gehen würde.
Wenn wir nach #NatureInspired suchen, wollen wir Posts mit idyllischen Landschaften, bunten Blumenwiesen und verzaubernden Bachläufen. Üppiges Grün, blauer Himmel und so. Ein modriger, grauer, matschiger Garten macht sich einfach nicht so gut als Windows-11-Bildschirmhintergrund und löst in manchen von uns ein Unbehagen aus, was zur Couchflucht verleitet, wo wir mit Netflix auf die Sommermonate warten.
Andreas Niemöller sieht das anders. Für ihn ist der Garten im Winter nichts, wovor man sich verstecken sollte. Im Gegenteil: Kahle Sträucher und verwesende Laubhaufen sind für ihn ein Zeichen, dass das Leben im Garten weitergehen kann. „Im Garten werden wir wieder ein Stückweit in die Kreisläufe der Natur eingebunden“, erklärt er uns. „Hier wird man ständig mit Vergehen und Entstehen des Lebens konfrontiert. Wer sich damit auseinandersetzt, wird lernen, im Moment zu leben und diesen zu schätzen.“
Status quo: Entfremdung von der Natur
Die meisten Menschen in unserer Wohlstandsgesellschaft hätten allerdings nicht dieses Mindset. Vielmehr eifere man materiellen Zukunftsfantasien hinterher und verleugne die eigene Vergänglichkeit. Diesen Zustand führt Niemöller auf unsere Entfremdung von der Natur zurück. Für ihn habe sich das Verhältnis von Mensch und Natur in den letzten Jahrhunderten stark zum Negativen entwickelt. „Früher waren wir viel mehr in die natürlichen Abläufe des Lebens eingebunden“, erklärt er uns. „Unsere Lebensmittel kamen vom Bauern und es gab keine Erdbeeren im Winter. Wir mussten also bei jeder Mahlzeit mit den Kreisläufen der Natur klarkommen.“
Das unbehagliche Gefühl, das Menschen beim Anblick von laublosen Bäumen im Winter – oder von leeren Erdbeerregalen im Supermarkt – verspüren, sei ein Symptom unserer Entfremdung von der Natur. „Wir machen uns heutzutage gar keine Gedanken darüber, in welchem Verhältnis wir zur Natur stehen“, erklärt er uns. „Wir sind nicht mehr in die natürlichen Kreisläufe des Lebens eingebunden. Stattdessen lassen wir uns ständig von der artifiziellen Plastikwelt ablenken, sodass wir verpassen, worum es im Leben wirklich geht.“
Obgleich wir im Gespräch immer wieder auf das Thema soziale Medien kommen, ist die Entfremdung von der Natur viel älter als Instagram, TikTok – und sogar älter als Facebook. Der amerikanische Philosoph, Ralph Waldo Emerson, warf schon 1836 den „inhabitants of the cities“ vor, dass sie sich von der Natur entfremdet hätten und sich stattdessen voll und ganz im Hamsterrad des Materialismus befänden, indem Arbeit ein Selbstzweck sei: „A man is fed, not that he may be fed, but that he may work.“
Knapp 200 Jahre später scheinen wir nicht viel weiter: „Statt uns auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu fokussieren, lassen wir uns vom Materialismus ablenken. Und wenn wir den Idealen des Materialismus nicht gerecht werden können – mit Haus, Auto und teuren Urlauben – fühlen wir uns schlecht und werden psychisch krank.“
Warum ist eine Entfremdung von der Natur schlecht?
Doch warum ist eine Entfremdung von der Natur überhaupt schlecht? Wäre es nicht 2024 an der Zeit, dass wir uns endlich von unseren biologischen Fesseln lösen? Der gelernte Gemüsebauer und Arbeitserzieher verneint diese Fragen, da die Natur uns jegliche Lebensgrundlage bietet. „Bevor wir vollsynthetische Lebensmittel herstellen können – was ich in absehbarer Zukunft stark bezweifele – sind wir Menschen Teil der Natur und sollten uns mit ihr befassen, statt uns von ihr zu entfremden.“
Diese Entfremdung von der Natur könne sich, in unterschiedlicher Weise manifestieren. Der Großteil der Menschen verschwende im Alltag keinen Gedanken an die Natur und an ihre natürlichen Prozesse, die unser aller Leben ermöglichen. Dies zeige sich, laut Niemöller, im Umgang mit unserer Umwelt, dem Klima und der Biodiversität.
Ebenso gefährlich wie eine Leugnung der Natur sei eine romantisierte Vorstellung von Natur als wohlwollende Entität, in die man nicht eingreifen sollte: „Die Natur ist gnadenlos und ihr ist egal, ob ich mir ein tödliches Virus einfange oder mir das Bein breche und hier draußen sterbe.“
„Ein Leben im Einklang mit der Natur bedeutet nicht, dass wir uns voll und ganz von der Natur überrumpeln lassen“, fängt er an. „Der Eingriff in die Natur kann durchaus positiv für die Artenvielfalt und für uns Menschen sein.“ Das ließe sich gut an einer Wildblumenwiese beobachten, wenn man diese nicht mehr pflegt und mäht: „Spätestens nach zwei bis drei Jahren werden sich die wachstumsstarken Gräser durchsetzen und die blühenden Wildblumen verdrängen.“
Was ist die Alternative zur Entfremdung: Natur erleben im Garten
Doch was ist die Alternative zur Verleugnung oder Verblendung gegenüber der Natur? Für den passionierten Gärtner lässt sich ein gesundes Verhältnis zur Natur im Garten erlernen. „Im Garten wenden wir die Mechanismen der Natur an und lernen, wie wir diese nutzen können, um unsere Lebensgrundlage zu sichern.“
Wer im Garten arbeitet, wird mit den radikalen Kreisläufen des Lebens konfrontiert und muss sich zwangsläufig damit auseinandersetzen. „Erst das Sterben und Vergehen von Pflanzen und Tieren führen dazu, dass Neues aus dem Boden wachsen kann. Erst das Sterben und Vergehen ermöglichen das Paradies, indem wir leben.“
Im Gespräch erklärt er uns, dass die Auseinandersetzung mit den natürlichen Kreisläufen des Gartens eine heilende Wirkung auf unsere Psyche hat. Erst durch die Konfrontation (und Akzeptanz) mit dem stetigen Sterben, Vergehen und Neuwachsen im Garten könnten wir Menschen wieder zu uns selbst finden. So könne man lernen, worum es im Leben wirklich geht: „Im Garten kommt man wieder zurück zu seinem Ursprung. Man begegnet sich selbst und der Welt auf einer ganz anderen emotionalen Ebene. Der Garten macht uns gesund.“ Und mit diesem Gedanken ist der Gemüsebauer und Arbeitserzieher nicht allein. Philosophen, wie Ralph Waldo Emerson oder Henry David Thoreau, schrieben schon vor 200 Jahren, dass die Natur ein Spiegel unserer Existenz sei: „Nature always wears the colors of the spirit.“ Wer Leben in einem verwesenden Laubhaufen sieht, ist also wahrscheinlich auf einem guten Weg.
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