Psychische Gesundheit und Natur

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„Die Natur tut jeden Augenblick ihr Bestes, um uns gesund zu machen. Natur ist doch nur ein anderes Wort für Gesundheit.” (Aus Henry David Thoreaus Tagebüchern, 1852)

Verbringen wir Zeit in der Natur, fühlen wir uns erholter, ausgeglichener und gesünder. Das wusste der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau schon im 19. Jahrhundert und das sind auch heute keine Breaking News. Weil Thoreau so sehr an die heilende Kraft der Natur für Körper und Seele glaubte, wagte er 1845 den drastischen Schritt und zog in eine Holzhütte im Wald, wo er allein in der Wildnis lebte. Inzwischen sind über 150 Jahre seit Thoreaus Erkenntnis vergangen – und doch ist eine Sache nicht geklärt: Wir wissen bislang nicht genau, warum Natur uns gesund macht, und welche Mechanismen dahinterstecken.

In der Medizin, Philosophie und Psychologie erforschen Wissenschaftler:innen dieses Phänomen seit Jahrzehnten. In Anbetracht der Klima- und Biodiversitätskrise gewinnt dieser Forschungszweig immer mehr an Bedeutung, da sich unsere Umgebungen so drastisch verändern. Immer wieder zeigen Studien, dass „exposure and experience of nature“ (also der Kontakt und das Erleben von Natur) unsere psychische Gesundheit und Wohlbefinden steigern und dass Zeit in der Natur das Risiko für viele psychische Störungen wie Depression, Angststörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) senken.

Warum ist Natur gut für unsere psychische Gesundheit?

Wenn wir Zeit in der Natur verbringen, hat das auf vielen psychologischen Ebenen ein Effekt. Negative Emotionen werden gedämpft, positive Emotionen verstärkt und Stress wird reduziert. Der Wald, das Grün und die Natur sind anthropologisch gesehen unser natürlicher Lebensraum. Wenn man den Beginn der Urbanisierung auf den Aufstieg der industriellen Revolution datiert, dann hat der Mensch weniger als 0,01 Prozent seiner Artenhistorie in modernen Umgebungen verbracht. Der Mensch hat also über 99,99 Prozent seiner Zeit in natürlichen Umgebungen gelebt. Diese Diskrepanz zwischen der natürlichen Umgebung, für die unsere physiologischen Funktionen angepasst sind, und der stark urbanisierten und künstlichen Umgebung, in der wir heute leben, könnte zur Entstehung des „Stresszustandes“ bei modernen Menschen beisteuern (Song, Ikei & Miyazaki, 2016). Epigenetisch sind wir also voll auf ein Leben in der Natur eingestellt, doch wohnen heute in Städten ohne Grünflächen, Bäumen oder anderen natürlichen Elementen. In diesen urbanen Umgebungen sind wir unnatürlichen Einflüssen ausgesetzt, wie Toxinen und Lärm. Gleichzeitig kommen wir aber nicht mit „guten“ Bakterien, Viren und Pilzen in der Natur in Berührung, die unser Immunsystem und Mikrobiom fördern. Der menschliche Organismus hat sich also schlicht und ergreifend bisher nicht an ein städtisches Leben gewöhnt und es bleibt fraglich, ob er das jemals tun wird. Das könnte wiederum negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität haben und psychische Störungen, wie Depressionen, begünstigen.

Bedeutet das jetzt, dass wir alle (wie Henry David Thoreau) in den Wald ziehen müssen, um glücklich zu werden? Nein, zum Glück nicht! Tatsächlich zeigen Studien, dass wir mit relativ kleinem Zeitinvestment, große positive Effekte auf unsere psychische Gesundheit bewirken können. Payne, Loi & Thorsteinsson (2020) zeigten, dass bereits 20 Minuten in einer „natürlichen Umgebung“ zu einer signifikanten Verringerung des Stressniveaus führten. Andere Forschende haben herausgefunden, dass 30 Minuten in der Natur zu einer signifikanten Steigerung in Stimmung, Wohlbefinden, Achtsamkeit und Sinnhaftigkeit führten. Und selbst ein Fenster mit Blick auf eine natürliche Umgebung scheint zu einer höheren Lebenszufriedenheit zu führen (Chang et al., 2020). Meredith und Kolleg:innen (2020) haben sogar gezeigt, dass junge Erwachsene schon nach einem 10-minütigen Spaziergang in der Natur ein verbessertes seelisches Wohlbefinden aufzeigten, verglichen mit Menschen in urbanisierten Umgebungen.

Auch wenn sich die Zeitangaben von Studie zu Studie etwas unterscheiden, herrscht der Konsens, dass 10 bis 30 Minuten Natur am Tag gut für die psychische Wohlbefinden sind. Dabei ist der Begriff „Natur“ dehnbar: Man muss nicht immer in die Berge oder in den Wald gehen. Der Effekt entsteht auch bei kleineren Grünflächen oder Parks, oder sogar bei einem Fenster mit Blick auf eine natürliche Umgebung. Dieser positive Effekt von Natur auf psychische Gesundheit wird höchstwahrscheinlich noch verstärkt, wenn man sich währenddessen sportlich betätigt, oder die Zeit in der Natur gemeinsam mit Freunden oder Familie verbringt (Klaperski et al., 2019).

Was macht die Natur mit unserem Gehirn? Neurowissenschaftliche Ansätze

Welche Mechanismen im Gehirn hinter diesen positiven Effekten stecken, werden in den Neurowissenschaften diskutiert. Hier steht die Forschung noch relativ am Anfang, doch schon heute gibt es spannende Erklärungsansätze, die in den nächsten Jahren untersucht werden müssen. Eine der offensichtlichsten Vermutungen ist, dass Grün- und Blauflächen den Stresspegel senken und somit vorrübergehend das Cortisollevel reduzieren.

Neben dieser Stressreduktion vermuten Neurowissenschaftler:innen aber auch, dass das Gehirn in der Natur häufiger in eine Art „Ruhezustand“ versetzt wird (englisch: resting state). Während diesem „resting state“ reflektieren wir uns selbst, erinnern uns an die Vergangenheit und planen für die Zukunft. Störungen im „resting state“ wurden in zahlreichen Studien mit verschiedenen psychischen Störungen in Verbindung gebracht, wie Depression, Angststörungen oder ADHS.

Allerdings vermuten Wissenschaftler:innen, dass es neben Stress und „Resting State“ noch andere neurowissenschaftliche Mechanismen gibt, die dazu führen, dass wir uns besser fühlen, wenn wir Zeit in der Natur verbringen. In einer Studie von Kühn et al. (2022) wurde untersucht, wie sich die Natur auf unsere psychische Gesundheit auswirkt. Die Forscher:innen haben herausgefunden, dass Zeit im Freien zu strukturellen Veränderungen der grauen Materie im präfrontalen Kortex führt. Sie haben gesehen, dass bestimmte Bereiche im Gehirn, die für unser Wohlbefinden wichtig sind, aktiver werden, wenn wir viel Zeit in der Natur verbringen. Diese spannenden Ergebnisse könnten erstmalig die positiven Effekte von „Waldbaden“ erklären. Hier ist noch weitere Forschung nötig, aber es bleibt spannend!

Forschende haben also schon viel Wissen geschaffen. Allerdings wissen wir bis heute nicht, wie die Natur den Cortisolspiegel senkt, wieso das Gehirn in der Natur häufiger in den „resting state“ fällt, oder warum der präfrontale Kortex bei Menschen anders aussieht, die viel Zeit in der Natur verbringen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien, die untersuchen, ob man diese positiven Effekte auf das psychische Wohlbefinden auch in einer „künstlichen Natur“ hervorrufen kann. Hierfür zeigten Wissenschaftler:innen ihren Proband:innen Bilder oder Filme während eines MRT-Scans, oder ließen ihre Proband:innen mit einer VR-Brille einen virtuellen Ausflug in die Natur unternehmen. Selbst diese „künstliche Natur“ hatte einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden, wenn auch viel schwächer als ein Spaziergang im echten, biologischen Wald. Optische und akustische Reize, wie Licht, Farben und Vogelgezwitscher, scheinen also eine große Rolle zu spielen. Daneben gibt es aber natürlich auch eine Reihe von anderen Sinneseindrücken, die wir vielleicht gar nicht bewusst wahrnehmen, die höchstwahrscheinlich eine große Rolle spielen. Diese unbewussten Reize in einem Laborsetting zu emulieren, ist und bleibt ein schwieriges Unterfangen, weshalb die heilende Kraft der Natur vielleicht noch ein paar Jahre ein Rätsel bleiben wird.

Psychische Gesundheit und Natur: Was macht die Umwelt mit unseren Köpfen?

Psychische Gesundheit und Natur: Was macht die Umwelt mit unseren Köpfen?

Wenn wir Zeit in der Natur verbringen, fühlen wir uns besser. Das wusste Henry David Thoreau 1852 und das wissen wir heute – auch ohne großangelegte wissenschaftliche Studien. Was wir noch nicht wissen, ist, welche Faktoren genau diese positiven Effekte auslösen: Ist es die Reflexion des Sonnenlichts im klaren Bachwasser? Oder vielleicht die Farben der im Wind tanzenden Pflanzenblätter? Könnte es die Geräuschkulisse eines Vogelschwarms oder gar der modrige Geruch des Waldbodens sein? Oder ist es vielleicht die Kombination aus Licht, Farbe, Geräusch und Geruch? Hier muss noch viel Wissen geschaffen werden, damit auch den Menschen geholfen werden kann, die nicht, wie Thoreau, allein im Wald leben möchten. Sobald wir wissen, welche Elemente der Natur heilend wirken, können wir versuchen, diese gezielt in den Alltag von unseren Mitmenschen zu bringen und deren psychische Gesundheit zu verbessern. Mit etwas Glück werden die Städte der Zukunft Mensch und Natur in Einklang bringen.

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